Geschichten über Abschiede, die bedrücken, und Abschiede, die befreien, über das Gelingen und Scheitern der Liebe, über Vertrauen und Verrat, über bedrohliche und bewältigte Erinnerungen und darüber, dass im falschen Leben oft das richtige liegen kann und im richtigen das falsche. Geschichten von Menschen in verschiedenen Lebensphasen, ihren Ängsten, Verstrickungen und Hoffnungen. »Liebe und mache, was du willst« ist vielleicht kein Rezept für ein gutes Ende, aber eine Antwort, wenn andere Antworten versagen.
In dem abwechslungsreichen Geschichtenband staunt man über die Phantasie des Autors, die so unterschiedliche, gleichermaßen fesselnde wie unspektakuläre Erzählungen zum Leben erweckt.
Es geht, wie der schöne, bildhafte Titel schon verrät, um die verschiedenen Arten von Abschied. Im Zentrum steht dabei das Abschied nehmen selbst und das, wovon man sich im Laufe des Lebens verabschieden muss:
von Nachbarn, von der Exfrau, vom Freund, von der Tochter, vom Bruder, von der körperlichen Unversehrtheit, von der eigenen Rolle, von einer Illusion, von einer Lebensphase, aber auch von Ängsten und Liebesgefühlen.
Wir lesen von Abschied, der Trauer, Ratlosigkeit, Enttäuschung und Wut auslösen, aber auch Erlösung und Befreiung sein kann.
Und es geht um Abschied, der manchmal notwendig ist, um seiner Haltung und damit sich selbst treu zu bleiben oder um sich Alternativen und neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Ich kann mich nur staunend und anerkennend wundern, wie es Bernhard Schlink immer wieder aufs Neue gelingt, den Leser in Windeseile in fremde Welten hineinzuziehen.
Man findet sich schnell darin zurecht und bekommt einen wunderbaren Eindruck von den Charakteren, die in ihrer ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit gezeichnet werden.
Beeindruckt bin ich auch von der Sprach- und Wortgewalt des Autos. Kurz und knapp, treffsicher und bildhaft, bringt er das, was er sagen will auf den Punkt.
Bernhard Schlink erzählt feinfühlig und schafft es scheinbar spielerisch, komplexe psychologische Sachverhalte klar und differenziert zu Papier zu bringen.
Beim Leser wird die ganze Palette der Gefühle angesprochen.
Die Geschichten haben Tiefe und der Autor vermittelt Einblicke in das Seelenleben und in menschliche Abgründe. Er spricht aus, was im Alltag oft verschämt oder aufgrund von Konventionen tabuisiert wird.
Chapeau!
Sechs der neun Erzählungen fand ich bravourös, drei etwas schwächer.
Die erste Geschichte in dem Band überraschte mich schon mal positiv.
Wir erfahren so Einiges über die Freundschaft des berenteten Ich-Erzählers zum bereits verstorbenen Andreas.
Beide Männer waren Mathematiker, beide lebten in der ehemaligen DDR. Andreas unternahm nach dem Bau der Mauer einen Fluchtversuch, musste vier Jahre ins Gefängnis und anschließend ein Jahr in die Fabrik. Der Ich-Erzähler wurde Leiter eines Instituts für Kinetik und förderte und unterstützte seinen Freund Andreas Jahre später in diesem Institut.
Aber er hat Andreas zeitlebens auch etwas verheimlicht.
Etwas, das die Freundschaft hätte belasten können, wenn es ans Tageslicht gekommen wäre.
Nach dem Tod des Freundes kommt dessen Tochter auf die Idee, Einblick in seine Stasi-Akte nehmen zu wollen. Der Erzähler will ihr das ausreden.
Hat er Sorge, dass das Geheimnis dann gelüftet würde und dass die Freundschaft dadurch postmortem Schaden nehmen oder zur Farce werden würde?
Diese Geschichte war unglaublich eindringlich, eindrücklich und spannend.
Dann folgt eine Geschichte, in der die Kränkung über einen erzwungenen Abschied zu einer „Mordswut“ führt. Diese Wut wird so groß, dass sie den Erzähler die Augen vor einem beobachteten Mord verschließen lässt.
Die komplexe Beziehung eines Geschwisterpaares steht im Mittelpunkt der nächsten Geschichte. Das verwickelte Verhältnis basiert auf Schuld und Sühne und lässt der Schwester kaum Frei- und Spielraum. Anderen ist der Zutritt nur bis zu einer bestimmten Grenze gestattet.
Um eine fast „alltägliche“ und klischeehafte Thematik geht es in „das Amulett“:
Die Ehefrau wird vom Ehemann wegen des Au-Pair-Mädchens verlassen und reagiert darauf schwer gekränkt.
Aber wie der Autor diese Geschichte erzählt, ist alles andere als alltäglich. Hier erkennt man ganz deutlich, dass er psychologisch versiert ist.
Er verschafft dem Leser einen Einblick in die menschlichen Abgründe, zeigt innere Ambivalenzen und die Notwendigkeit des Verarbeitens auf und formuliert das Ganze noch dazu bravourös.
Die Geschichte mit dem vielsagenden und zweideutigen Titel „Geliebte Tochter“ zeigt dem Leser eine ganz andere Seite des Autors.
Rasant strebt die vordergründig idyllische Handlung einem Höhe- und Wendepunkt zu.
Hinter den Kulissen wirft sie Fragen auf über sexuelle Identität, Verleugnung und Wertung.
Sie zeigt wieder einmal, dass alles komplexer ist, als zunächst angenommen.
Es ist eine Geschichte, die von Aufrichtigkeit, Unspektakulärem, Toleranz und Unkonventionalität geprägt ist.
In den folgenden Geschichten geht es um den kurzzeitigen Abschied aus Routine und Angepasstheit, Suizid, Trauerarbeit und den wehmütigen Einschnitt, den ein 70er Geburtstag darstellen kann.
Plötzlich wiegt die Vergangenheit mehr, als die Gegenwart.
Erinnerungen verschiedener Couleur und Gefühle jegliche Schattierung drängen sich in den Alltag und der Protagonist wird melancholisch bis subdepressiv.
In der letzten Geschichte geht es um Verlustangst: Ein alter Mann liebt eine junge Frau und hat Angst, sie zu verlieren. Er befürchtet, sie könnte einen Erwartungsdruck verspüren, sich vereinnahmt fühlen oder von ihm enttäuscht sein... und ihn verlassen.
Bernhard Schlink wirft in diesem absolut gelungenen Werk brisante und tiefgründige Fragen auf und bietet mit seinen Geschichten Diskussionsstoff.
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