Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein? Der neue Roman von Jasmina Reza kreist um große Fragen - bissig, zärtlich und herzzerreißend komisch.
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Die Familie, die Shoa und die Befindlichkeiten - ein Familienroman
Bewertung am 29.06.2022
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Yasmina Rezas Roman Serge erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie. Es ist die Geschichte der Familie Popper, den Kindern Serge, Jean und Nana und deren Beziehung zueinander. Und es geht ums Jüdisch sein heutzutage und alles was dazu gehört: Die Vergangenheit, die Gegenwart, das Leiden und das Erinnern. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: wie geht man mit dem jüdischen Erbe um? Was ist das für eine Erinnerungskultur? Wer sind die Juden heutzutage?
Ganz konkret werden die Proppers beschrieben: Die 3 Kinder sind alle in ihren späten Fünfizigern bis mittleren Sechzigern. Jean, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, lebt vermutlich aus Gründen der Bindungsscheue nicht mehr mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin zusammen, kümmert sich aber liebevoll um deren Sohn. Er ist das mittlere Kind, der Vermittler, der Verstehende.. Nana, die jüngste Schwester hat einen Mann geheiratet, den und dessen Leben ihre Brüder ablehnen und als unpassend empfinden, und den sie andauernd vor ihnen verteidigen muss. Ihr Sohn Victor hat eine Ausbildung zum Koch gemacht, hat Großes vor und möchte auf eigenen Beinen stehen, auch wenn der Onkel Serge ihm großspurig bei der Jobfindung unter die Arme greifen möchte. Sie ist angekommen in ihrer kleinen Familie und zufrieden in der beschaulichen kleinen Welt um sie herum. Serge, die titelgebende Figur, ist ein gescheiterter Mensch: Gescheitert in den unklaren geschäftlichen Aktivitäten, gescheitert in seiner Ehe und auch in seiner Beziehung mit der Italienerin Valentina. Gescheitert in der Beziehung zu seiner Tochter Joséphine. Er hängt einem obskuren Aberglauben an und lässt sich davon bestimmen. Aktuell lebt er verlassen und einsam in einem tristen traurigen Appartment und hadert mit dem Schicksal.
Nach dem Tod der Mutter entschließen sich die drei Geschwister auf Wunsch von Serges Tochter Joséphine sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und nach Auschwitz zu fahren. Dort sehen sie sich mit dem „Erinnerungstourismus“ konfrontiert, der die Familie spaltet und letztlich die Fahrt zu einer Zerreißprobe macht. Denn jeder reagiert anders auf die Gegebenheiten vor Ort und den „gewollten Schrecken“.
Was mir besonders gut an dem Buch gefallen hat ist die Beschreibung der Charaktere. Die Dynamik in der Familie, die „Kuddelmuddelkiste“, der Umgang der Geschwister miteinander, mit den bereits verstorbenen Eltern und den Kindern macht es sehr lebendig. Serge ist am ausführlichsten beschrieben und ist der tragische gescheiterte Held. Die Sprache, das Tempo und der Wirtz macht das Buch wunderbar leicht zu lesen. Dem gegenüber steht die schwere Auschwitzreise und das große Mahnmal der Shoa. Kritisch hinterfragt die Autorin die Erinnerungskultur und das touristische Vermarkten der Kulissen. Dem kann man sich anschließen oder nicht. Aber was mir dieses Buch besonders lesenswert machte war nicht die Familienaufstellung an sich, sondern die jüdischen Wurzeln der Familie und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Natürlich muss man die Sprache von Yasmina Reza mögen. Die ist oft sehr direkt, respektlos, bissig. Aber man spürt meines Erachtens auch die Wärme und die Komik, auch an unerwarteten Stellen. Wer mit ihrem Humor etwas anfangen kann, dem wird das Buch gefallen. Vor der gemeinsamen Auschwitzreise wirkt der Roman eher episodenhaft und verwirrend, wenn man sich jedoch Zeit lässt und ihn langsam ließt feindet sich das eine oder andere Juwel.
Wie gesagt hängt es meiner Meinung nach sehr davon ab, ob man den Stil Yasmina Rezas mag oder nicht, um zu sagen, wie gut das Buch beim Leser ankommt.
Ich mochte es sehr.
Schwierig zu bewerten
Bewertung am 01.02.2022
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Ich gebe dem neuen Werk der zweifellos genialen Yasmina Reza 4 von 5 Sternen. Allerdings tue ich mich sehr schwer bei der Bewertung. Das Buch hat mich extrem amüsiert und ich habe die hohe literarische Qualität genossen und dabei hat mich die Lektüre enorm angestrengt. Die Komposition ist nicht so einfach zum "weglesen" geeignet, es gibt viele Zeit- und Gedankensprünge. Ich habe das Buch gern zu Ende gelesen, aber ich kann auch verstehen, wenn sich der ein oder andere Leser davon überfordert fühlt. Ich fand die Anstrengung jedenfalls lohnend.
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Serge ist ein unsympathischer Zeitgenosse, ein Gernegroß. Mit Frauengeschichten ruiniert er seine Partnerschaft, übergeht die Wünsche anderer und missachtet Menschen, ohne sich je wirklich auf sie einzulassen. Yasmina Reza hat mit ihm eine starke Figur erschaffen, mit deren Hilfe sie in ihrem schmalen, flott und anregend zu lesenden Buch viel thematisiert, was uns betrifft: den Umgang mit Erinnerungskultur, Einsamkeit, Schwäche, Familienzusammenhalt und Geschwisterliebe.
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Nach dem Tod der Mutter fährt die Familie nach Auschwitz, um den Ort der ungarischen Vorfahren aufzusuchen. Doch am Ort des Schreckens kommt es zu alltäglichen Familienstreitereien.
Yasmina Reza ist eine Meisterin der realen Gesellschaftssatire, die ernsten Themen eine humorvolle Komponente geben kann. Und die Frage, ob es überhaupt eine Erinnerungskultur geben kann, bleibt offen.
Ein Buch, das auf jeden Fall zur Diskussion anregt.