Ein Sohn wendet sich an seine Eltern. Mit einem Brief versucht Marco Ott das Schweigen zu überwinden, das sich über die Jahre zwischen ihnen ausgebreitet hat. Eine unerwartete Nachricht seines Vaters weckt Erinnerungen: an seine Kindheit und Jugend in einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet und seine Versuche, in der akademischen Welt Fuß zu fassen. Dabei enthüllt sich die Verheißung des Bildungsaufstiegs als Trugbild. Was hat er auf dem Weg in die "gebildete Welt" zurücklassen müssen? Können Worte die schmerzliche Entfremdung aufwiegen?
Marco Otts »Was ich zurückließ« ist das Debüt eines Erzählers, dem in seinem beeindruckenden Buch auch ein Bildungs- und Künstlerroman im Stile eines Didier Eribon oder Édouard Louis gelungen ist.
Das Selbstportrait eines jungen Autors von universeller Wucht
Bewertung am 18.06.2024
Bewertungsnummer: 2225516
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Ende der 90er Jahre. Marco Ott als 6jähriger in der Sozialwohnung seiner Eltern in Dinslaken. Seine dünnen Beinchen baumeln über dem PVC-Boden unter dem Küchentisch. Er löffelt Schoko Chips, während seine Mutter die Werbeblätter der Supermärkte studiert, um nicht beim Wocheneinkauf im CentrO die günstigsten Angebote zu verpassen. Arbeitermilieu. Und doch mangelt es ihm an nichts, er fühlt sich umsorgt, geliebt, behütet, zufrieden mit dem, was seine Eltern ihm geben.
Das Unwohlsein, der Mangel, die Ausgrenzung, die Wut – auch auf die Eltern und auf das, was sie ihm NICHT geben können - kommen erst später. Mit der Sozialisation. Mit der Schule, der Gruppendynamik, dem Dazugehörenwollen. Immer mehr verliert er den Halt in dem inzwischen peinlichen, ungebildeten, in jeder Hinsicht zu engem Umfeld im Elternhaus.
Was ihm Halt gibt – erste künstlerische Ambitionen - findet nirgends Akzeptanz. Dafür verstärkt sich das Gefühl, nicht zu wissen, wo er hingehört. Scham, Unsicherheit, Zerrissenheit und das Gefühl, sich verstecken, seine Herkunft verleugnen zu müssen, ziehen im Laufe der Jugend einen tiefen Graben zwischen ihn und seine Eltern.
Es folgt eine Odyssee über Berlin, Leipzig, Frankfurt und Hildesheim zwischen Kunst und prekären Arbeitsverhältnissen, Armut, Peinlichkeit und Streben nach Selbstentfaltung und nicht nur künstlerischer Identität.
In einer Art langem Brief an die Eltern versucht sich der Dreißigjährige an einer Versöhnung. Detailreich und mit einem liebevollen Lächeln lässt er die Geschichte seiner Kindheit und Jugend im Arbeitermilieu vor uns erstehen. Welche Prägungen und zwangsläufigen Grenzen dieses Milieu auch seinen Eltern auferlegte, begreift er erst heute.
„Das immer wiederkehrende Gefühl, verlorene Zeit aufholen zu müssen. Ich muss mehr lernen, mehr nachdenken, mehr verstehen. Immer im Hintertreffen zu sein, kommt Euch das bekannt vor?“ S.85
Er schreibt sie direkt an, stellt Fragen, begibt sich in einen Dialog, zerreibt sich an der Grenze zwischen Befreiung und Scham. Mit einer genauen Beobachtungsgabe für Details und einer großen sprachlichen Nahbarkeit zieht er mich direkt in sein Leben und seine Empfindungen hinein. Erzeugt Mitgefühl, Wut, eigene Reflektion.
Dieses Buch wird als „ein neues Stück Klassenliteratur“ gefeiert und ich musste tatsächlich an Édouard Louis und DAS ENDE VON EDDY denken. Für mich ist es aber auch noch so viel mehr. Es ist auch ein Entwicklungsroman, auch ein Coming-Of-Age-Roman, eine offene, schonungslose Identitäts-Suche.
Ich fühle seine Geschichte mit jeder Faser, sehe diesen Spiegel, mit dem einen manche Sätze der Eltern immer wieder triggern, das reifende Verstehen, den Abschied, das ZURÜCKLASSEN dessen, was man nicht mitnehmen kann und will. Und manchmal ist das sehr viel. Manchmal ist das ALLES.
Ich kann in diesen Text gar nicht hineinschreiben, was mir dieses Buch bedeutet, wie oft ich ihn umgeschrieben habe, wie intensiv ich mit Peggy @ein.lesewesen darüber gesprochen habe, wie es bei jeder Gelegenheit wieder auftaucht in meinen Gedanken und unseren Gesprächen. Auch wenn Marco Ott aus einem ganz anderen Milieu kommt, ganz andere Wege geht, vom Alter her mein Sohn sein könnte, er hat etwas Universelles zu Tage gebracht, das mich tief berührt hat.
Er studiert zurzeit literarisches Schreiben in Hildesheim. Ich freue mich darauf, mehr von dieser Stimme zu hören, die mir jetzt schon vertraut erscheint.
»Diese Worte sind der Versuch einer Annäherung aus der Distanz.« S. 13
In einer Art Brief versucht Marco Ott nachzuspüren, was zu einer Entfremdung von seinen Eltern führte. Ott wächst in einer Sozialwohnung in Dinslaken auf, das Verhältnis zu den Eltern ist herzlich, sie ermöglichen ihm alles, was in ihrer Macht steht. In einzelnen Episoden entsteht in mir ein klares Bild seiner Kindheit: ein gemeinsames Essen im Möbelhaus, weil man Werbecoupons hat, ein Blick auf das Preisschild, das entscheidet, ob man ein Teil gut finden kann. Allmählich mischen sich die Sichtweisen anderer ein, ein Mitschüler, der Otts Wohngegend als assi bezeichnet, offener Spott für Deichmannschuhe.
Er lernt schmerzhaft, was es heißt, anders zu sein, als ungenügend betrachtet zu werden, und erfährt Ausgrenzung. Scham, Verleugnung, Anpassung führen zunehmend zu Orientierungslosigkeit, Entfremdung und dem unbedingten Willen, dieses Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Was folgt, ist ein Weg des Scheiterns, des immer wieder Neuorientierens, eine Suche nach sich selbst, die noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig analysiert er, wie es zum Bruch mit seinen Eltern kam, gesteht seine Mitschuld ein und sucht eine Aussöhnung.
»Erst später sollte ich erkennen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.« S.122
Auf gerade mal 125 Seiten gelingt es Ott, all das in leise Worte zu fassen, die trotzdem einer Detonation gleichkommen. Die beim Lesen betroffen machen, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnern. Die unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in einer Zeit, wo der Ton in unserer Gesellschaft wieder rauer wird, braucht es diese Art von Klassenliteratur. Die Medien sind durchtränkt von der Darstellung von Idealen, die eine Welt vorgaukeln, die erstrebenswert sein soll. Die berühmte Möhre vor der Nase.
Ott nennt es gesellschaftliche Gewalt. Es sind die Wertvorstellungen einer anderen Schicht, die für allgemeingültig erklärt werden, Privilegien, die die Arbeiterklasse nicht hat, Geld, Status, Beziehungen. Ott jammert nicht, wenn er neben seinem Studium mehr arbeiten muss, als er letztlich im Hörsaal sitzen kann. Es geht aber um die Abbildung von Realität, das Nichtleugnen von Klassenunterschieden.
Nach der Lektüre standen bei mir noch immer viele Fragezeichen im Kopf. Was ist Klassenliteratur? Wodurch kennzeichnet sich autosoziobiografisches Schreiben? Begriffe, die ich nicht kannte. Nach stundenlanger Recherche war ich schlauer und las das Buch gleich ein zweites Mal – mein Blick war wesentlich schärfer. Nun fiel mir auch auf, wie on-Point seine Sätze sind, wie viel Verletzlichkeit dahintersteckt, wie schonungslos seine Selbstreflexion ist. Wie viel Mut es bedarf, seine unverblümten Gedanken der Ablehnung zu gestehen.
Aber kann man seine Klasse hinter sich lassen? Gibt es ein Ankommen oder auch ein Dazwischen?
»Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber mittlerweile schäme ich mich dafür, euch verleugnet zu haben. Ich schäme mich für meine Scham.« S.99
Ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr berührt hat.
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